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wsl.ch | Patrice Descombes | Forschungsstandort Paneirosse auf 2270 m in der Region Chablais. Im Hintergrund, Blick auf den Gipfel des Les Diablerets.

© wsl.ch | Patrice Descombes | Forschungsstandort Paneirosse auf 2270 m in der Region Chablais. Im Hintergrund, Blick auf den Gipfel des Les Diablerets.

Wie der Klimawandel Ökosysteme durcheinanderbringt

Wird es wärmer, steigen Organismen aus dem Tiefland höher hinaus. Forschende der ETH und der WSL untersuchten, was mit Pflanzengemeinschaften auf Grasland in den Alpen geschehen könnte, wenn pflanzenfressende Heuschrecken aus tieferen Lagen sich dort ansiedeln.

Auf der Welt wird es wärmer und wärmer – und viele Organismen, die heute in tieferen Lagen oder geografischen Breiten heimisch sind, müssen in höhere Lagen und Breiten ausweichen.

Besiedeln Organismen neue Lebensräume, könnten sie jedoch das ökologische Gleichgewicht, das sich über eine lange Zeitspanne ausgebildet hat, empfindlich stören. Denn Pflanzen und ihre Fressfeinde haben sich über lange Zeit gemeinsam entwickelt, was sich auf ihre Verbreitung und Merkmale, die sie an gemeinsam besiedelten Standorten zeigen, auswirkte.

© wsl.ch | Patrice Descombes | Forschungsstandort auf 1800 m in der Region Chablais. Im Hintergrund, Blick auf das Vallon de Nant und den Grand Muveran.

Dies trifft insbesondere für alpine Gebiete zu: Weil in hohen Lagen die Vegetationszeit kurz ist, sind pflanzenfressende Insekten weniger häufig, und Pflanzen müssen sich weniger vor Fressfeinden schützen. In tiefen Lagen jedoch herrscht ein hoher Frassdruck. Pflanzenfressende Insekten sind häufiger und artenreicher. Pflanzen müssen sich daher stärker verteidigen, sei es mittels Stacheln, Dornen, Haaren oder durch giftige Inhaltsstoffe. Der Klimawandel könnte diese ökologische Struktur stören.

In einem Versuch untersuchten deshalb Forschende der ETH, der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sowie der Universität Neuchâtel, was geschehen könnte, wenn Pflanzenfresser – im diesem Fall verschiedene Heuschrecken aus mittleren Lagen – in grösseren Höhen alpine Wiesen besiedeln und dort auf neue Pflanzengesellschaften stossen. Die Studie wurde soeben in der Fachzeitschrift «Science» publiziert.

Die Forschenden verfrachteten verschiedene Heuschreckenarten von mittlerer Höhe (1400 Meter über Meer) auf drei alpine Grasland-Standorte auf Höhen von 1800, 2070 und 2270 m.ü.M. Dort setzten die Ökologen die Heuschrecken in Käfigen aus. Die angestammten Grashüpfer wurden zuvor aus den Probeflächen entfernt. Der Versuch wurde in der Region Anzeindaz in den Waadtländer Alpen durchgeführt.

© wsl.ch | Patrice Descombes | Forschungsstandort auf 2070 m in der Region Chablais unter dem Kamm von La Corde.

In ihrer Studie massen die Forschenden unter anderem, wie sich unter dem Einfluss der pflanzenfressenden Insekten die Biomasse, Struktur und Zusammensetzung der alpinen Pflanzengesellschaften veränderten. Die Forschenden untersuchten zudem, ob einige Alpenpflanzen aufgrund gewisser Merkmale wie Zähigkeit der Blätter, dem Gehalt an Kieselsäuren oder Inhaltsstoffen wie Phenolen oder Tanninen, anfälliger für Frass sind.

Gebietsfremde Heuschrecken verändern Flora

Dabei stellten die Ökologen fest: Mit ihrem Fressverhalten beeinflussten die Heuschrecken die Vegetationsstruktur und Zusammensetzung der alpinen Flora deutlich.

© wsl.ch | Peter Duelli | wanderheuschrecke

Alpine Pflanzengesellschaften sind klar strukturiert: Pflanzen mit zähen Blättern dominieren und bilden die oberste Vegetationsschicht; darunter wachsen schattentolerantere Arten mit weicheren Blättern. Diese natürliche Gliederung wurde durch die eingeführten Heuschrecken gestört: Die Insekten frassen bevorzugt höher wachsende, zähe Pflanzen. Diese glichen aufgrund ihrer Blattstruktur, dem Nährstoffgehalt, chemischen Abwehrstoffen oder ihrer Wuchsform den Tieflandpflanzen, welche die Heuschrecken normalerweise frassen.

Dadurch verringerten die Insekten die Biomasse der dominanten zähen Alpenpflanzen, und das wiederum begünstigte das Aufkommen von kleinwüchsigen Arten, die von den Pflanzenfressern gemieden wurden. Die Pflanzenvielfalt nahm so insgesamt kurzfristig zu.  

«Einwandernde Pflanzenfresser verzehren in ihrem neuen Lebensraum nur bestimmte Pflanzen, was die Konkurrenzverhältnisse zwischen den verschiedenen Alpenpflanzen verändert und neu organisiert», sagt der Erstautor der Studie, Patrice Descombes. So könnte die Klimaerwärmung das ökologische Gleichgewicht stören, weil mobile Tiere wie pflanzenfressende Insekten ihr Vorkommen rascher in grössere Höhen ausdehnen können als die sesshaften Pflanzen.

Herbivore Insekten aus tieferen Lagen könnten daher in alpinen Lebensräumen mit ansässigen Pflanzen leichtes Spiel haben, da diese nur ungenügend oder gar nicht auf neue Fressfeinde eingestellt sind. Das könnte die heutige Struktur und Funktionsweise alpiner Pflanzengemeinschaften als Ganzes verändern. Der Klimawandel wirkt sich also nicht nur direkt aufgrund der Temperaturerhöhung auf Ökosystem aus, sondern auch indirekt aufgrund veränderten Beziehungen zwischen Pflanzenfressern und Pflanzen.

Für Loïc Pellisier, Professor für Landschaftsökologie an der ETH Zürich und der WSL, ist dieser indirekte Effekt des Klimawandels auf Ökosysteme etwas vom Wichtigsten, das aus der Studie hervorgeht: «Die Klimafolgenforschung hat bisher vor allem direkte Effekte der Temperatur auf Ökosysteme untersucht. Die neuen Wechselwirkungen zwischen Organismen, die in neue Lebensräume einwandern, könnten wichtige strukturelle Veränderungen hervorrufen. Sie sind wichtige Treiber von veränderten Ökosystemen in einem immer wärmeren Klima.»

Mit ihren Resultaten wollen die Forschenden auch Modelle verbessern, die solche Vorgänge nur ungenügend einbezogen haben. Davon erhoffen sich die Ökologen auch bessere Prognosen, wie sich Ökosystemfunktionen und -dienstleistungen unter dem Einfluss des Klimawandels verändern.

Quelle

Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft 2020 |WSL

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