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In Insektenkolonien ist die Hälfte der Bevölkerung „arbeitslos“

Offenbar unterhalten Insektenvölker eine große „Reservearmee“, die bei Krisen einspringt, um das Überleben des Staates sicherzustellen.

Soziale Insekten wie Ameisen oder Bienen gelten gerne als fleißig. Sie sind kollektive, durch Selbstorganisation geleitete, offenbar höchst effiziente Organismen, in der die Individuen arbeitsteilig organisiert sind. Biologen von der University of Arizona haben nun aber festgestellt, dass ein großer Teil der Ameisen in einer Kolonie faulenzt und keiner Tätigkeit nachgeht. Gibt es also in Insektenkolonien eine Schmarotzerklasse, die im „anstrengungslosen Wohlstand“ lebt und es sich auf Kosten der Arbeitenden gut gehen lässt?

Die Forscher haben bei der Ameisenart Temnothorax rugulatus, die in den Bergen im Südwesten der USA lebt, versucht herauszufinden, ob die Müßiggänger überschüssig sind oder doch eine Funktion haben. Es ist von allen Insektenkolonien bekannt, auch bei Bienen, Hummeln, Wespen oder Termiten, dass die Hälfte der Mitglieder oder auch mehr praktisch nichts machen, auch wenn dies im Laufe des Tages oder von mehreren Tagen schwanken kann. Bekannt ist auch, dass bei Ameisenvölkern dann, wenn Arbeiter ausfallen, sie meist durch andere ersetzt werden.

Daher wird vermutet, dass die Müßiggänger von den Kolonien als flexible Reservearbeiter gehalten werden, die schnell einspringen, wenn Arbeiter ausfallen oder mehr Arbeit zu leisten ist. Marxistisch ließe sich sagen, die Kolonie halte sich eine Reservearmee als eine Überschussbevölkerung von potentielle Werktätigen: „Es ist daher“, so Karl Marx, „ebenso sehr Tendenz des Kapitals die arbeitende Bevölkerung zu vermehren, wie einen Teil derselben beständig als Überschussbevölkerung – Bevölkerung, die zunächst nutzlos ist, bis das Kapital sie verwerten kann.“ Es kommt aber, so Daniel Charbonneau und seine Kollege, hinzu, dass nach Untersuchungen, einspringende Ersatzameisen in der Regel nicht aus dem Pool der Müßiggänger kommen, sondern nur aus weniger aktiven.

Die Wissenschaftler haben die Hypothese durch einen Versuch mit 20 KJolonien überprüft, indem sie Ameisen mit Farbe markiert und sie zwei Wochen lang beobachtet haben. Untersucht wurden drei Szenarien: Herausnahme von 20 Prozent der aktivsten Arbeiterinnen, Herausnahme von 20 Prozent der inaktivsten Arbeiterinnen und Herausnahme von 20 Prozent zufällig ausgewählter Arbeiterinnen. Die Kolonien wurden vor der Herausnahme, eine Woche nach der Herausnahme und zwei Wochen danach gefilmt. Als „aktiv“ galten Tätigkeiten wie Sammeln, Bauen, Brutpflege, Trophallaxis (Weitergabe von flüssiger Nahrung), Körperpflege und Füttern mit toten Fruchtfliegen, als „unbestimmt“ galt das Herumwandern im Nest ohne erkennbare weitere Tätigkeit, als „inaktiv“, wenn Ameisen sich nicht bewegten oder keiner „aktiven“ Arbeit nachgingen. In den Kolonien waren vor dem Eingriff 40 Prozent inaktiv, 10 Prozent Sammler, 17 Prozent mit der Brutpflege beschäftigt und 32 Prozent liefen herum.

Warum leisten sich Insekten eine so große Reservearmee?

Wenn zufällig Arbeiterinnen entfernt wurden, ergab sich keine Änderung des Aktivitätlevels in den Kolonien. Bei Entfernung von einem Fünftel der Müßiggänger oder Überflüssigen, gab es in der ersten Woche einen kleinen, nicht signifikanten Zuwachs der Aktivität der Arbeiterinnen, nach zwei Wochen stellte sich der ursprüngliche Zustand wieder her. Die Müiggänger wurden aber nicht ersetzt. Bei Herausnahme von einem Fünftel der aktiven Arbeiterinnen (meist Sammler und Brutpfleger), wurden diese innerhalb einer Woche von den zuvor inaktiven und den herumwanderenden Ameisen ersetzt.

Daher gehen die Wissenschaftler davon aus, dass es in Insektenkolonien Mechanismen gibt, die sicherstellen, dass es eine bestimmte Menge aktive Arbeiterinnen gibt, also dass ein Aktivitätslevel homöostatisch aufrechterhalten wird. Kolonien halten sich mithin eine „Reservearmee“ von inaktiven, aber auch (ziellos?) herumwandernden Mitgliedern, die überflüssig sind, solange keine Krise eintritt, in der sie schnell aktiviert werden, um das Überleben der Kolonie zu sichern.

Interessant aber bleibt, dass Insektenkolonien es sich leisten, eine Reservearmee zu unterhalten, die die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Auch in anderen Systemen, die von Menschen kontrolliert werden, sichert man erwartbare Engpässe durch Vorsorge ab, schaut aber vor allem, die Kosten für diese Vorsorge zu minimieren. So soll der Anteil der flexiblen Arbeitnehmer, die bei Bedarf einspringen, zwischen 6,6 und 10,7 Prozent der der aktiven Werktätigen sein, bei den Insektenkolonien sind es aber 50-70 Prozent. Möglicherweise geht es hier nicht nur um eine Optimierung zur Senkung der Kosten, sondern um eine Optimierung, möglichst viele Mitglieder einer Gesellschaft in anstrengungslosem Wohlstand leben zu lassen? Es kann natürlich auch sein, dass Ameisenkolonien größeren Risiken ausgesetzt sind oder diese schlechter abschätzen können. Unbekannt ist aber auch, welchen Anteil junge oder alte, kranke oder anderweitig behinderte Individuen an der Reservearmee haben.  

Quelle

Der Bericht wurde von
der Redaktion „TELEPOLIS“ (Florian Rötzer)
2018
 verfasst – der Artikel darf nicht ohne
Genehmigung von Florian Rötzer 2018 weiterverbreitet
werden! 

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