© Andrea Piacquadio / Eine VR-Brille im Einsatz
© Andrea Piacquadio / Eine VR-Brille im Einsatz

Virtuelle Realität als "Therapeutikum" bei Angststörungen

Apps und "virtuelle Brillen" werden in der Behandlung von Stimmungs- und Angststörungen zunehmend zur Realität.

Auch das Team von Prof. Dr. Andreas Reif an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität beteiligt sich an klinischen Studien. "In unserer neuen VR-Angst-Ambulanz werden wir mit bereits in Studien erprobten VR-Modulen arbeiten. So können wir aktuelle Erkenntnisse zügig in der Therapie umsetzen", sagt Reif. In einem zweiten Projekt geht es um Behandlung von Depressionen mit Methoden der Virtuellen Realität (VR).

Angststörungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. In seiner neuen Ambulanz will das Frankfurter Team den Schwerpunkt auf besonders verbreitete soziale Phobien und Agoraphobie legen, sie können Betroffene in ihrem Alltagsleben extrem beeinträchtigen. Ein Fallbeispiel: Eine Frau bekommt regelmäßig Panikattacken, wenn sie über einen großen Platz mit Menschen geht; sie zieht sich immer mehr aus öffentlichen Räumen zurück. Ziel der Therapie ist Konfrontation statt Vermeidung: Die Patientin setzt sich sehenden Auges der angstbesetzten Situation aus – und dies muss nun nicht mehr in der Realität stattfinden, sondern die Wirklichkeit wird durch die VR-Brille ersetzt. Mit dieser Brille begibt sie sich ins Getümmel auf dem Marktplatz, spürt ihre extreme Angst, erfährt aber gleichzeitig, dass dieses Gefühl nachlässt, wenn sie sich dem nicht entzieht und Menschen zuwendet. Nach mehreren Sitzungen – immer verbunden mit therapeutischem Vor- und Nachgesprächen – gelingt es ihr, ihre Überreaktion schrittweise zu verlernen.

Die neue Frankfurter VR-Ambulanz wird schrittweise aufgebaut: Zunächst sollen in Kooperationen mit anderen Universitätskliniken – insbesondere mit Kollegen in Würzburg, den Vorreitern beim Einsatz der neuen Therapieform – bereits vorhandene VR-Module getestet, aber auch eigene entwickelt werden. Nach umfassender Diagnose wird ein individueller Behandlungsplan entwickelt – auf Basis der kognitiven Verhaltenstherapie; dabei geht es nicht nur darum, den virtuellen Angstreiz auszuhalten, sondern zusätzlich zu diesem Training im Therapiegespräch darüber zu sprechen, warum bestimmte Situationen als so beängstigend empfunden werden und welche Gedanken die Betroffenen ihrer Angst entgegensetzen können.

Die Diplom-Psychologin Ceylan Schuster, die am Aufbau der VR-Ambulanz beteiligt ist und in den vergangenen Jahren für ihre Dissertation intensiv auf dem Gebiet der Emotionsforschung in VR gearbeitet hat, hat in ihren Studien mit verschiedenen Testpersonen u. a. festgestellt: In einer Virtuellen Realität gesehene Bilder mit positivem oder negativem Inhalt (beispielsweise lachendes Kind oder verletzter Hund) begünstigen die Erinnerung an bestimmte Situationen, die mit diesen Fotos verbunden sind. „Sie wirken wie ein emotionaler Anker, ganz im Gegensatz zu neutralen Inhalten wie geometrische Piktogramme“, so Schuster. Diese Erkenntnisse werden jetzt auch in die beiden Projekte an der Frankfurter Klinik einfließen.

Bei Depressionen: positives Feedback im virtuellen Raum

Wenig Erfahrungen mit „virtual reality“ gibt es bisher in der Depressionstherapie. „Hier setzt unser zweites Projekt an“, so der Psychiater und Klinikdirektor Reif. „In der geplanten Studie konzentrieren wir uns auf die Frage: Kann ein positives Feedback in einem virtuellen Umfeld helfen, die für Depressionen typische ‚selbsterfüllende negative Prophezeiung‘ abzumildern?“ Und Schuster ergänzt: „Das VR-Modul, das wir entwickeln und testen werden, wollen wir einsetzen, um kognitive Verzerrungen wie ‚ich scheitere doch eh‘ oder ‚es tritt doch immer das Schlimmste ein‘ zu überwinden. Depressive Patienten können so erleben, dass ihre negativen Annahmen nicht real sind.“ Sobald sich solche Interventionen in den jetzt beginnenden Studien als effektiv herausstellen, sollen die Patienten der VR-Ambulanz davon profitieren.

App mit Warnsignal bei bipolaren Störungen

In der „BipoLife-Studie“, an der mehrere deutsche Universitätskliniken beteiligt sind, wird zurzeit überprüft, wie effektiv eine App für Patienten mit bipolaren Störungen ist. Die Betroffenen leiden unter starken Stimmungsschwankungen mit manischen und depressiven Phasen. Verschiedene Parameter werden von dieser App erfasst: Gesprächsdauer am Smartphone, Schritte und Wegstrecke, Zahl der SMS und Gesamtnutzung; Zugriff auf die Inhalte der Gespräche oder die genauen Orte ist selbstverständlich nicht möglich. Auf der Datenbasis, ermittelt in einer stabilen psychischen Phase, wird ein Algorithmus generiert. Wird die so festgelegte Schwelle über- oder unterschritten, wird ein Warnsignal an eine Person in der Klinik übermittelt. In der Frankfurter Klinik betreut die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Silke Matura diese Studie. Sobald eine automatisch erzeugte Mail bei ihr aufscheint, kontaktiert sie den Patienten und ermuntert ihn, mit seinem Therapeuten Kontakt aufzunehmen. „Wir haben mit diesem Frühwarnsystem bisher sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagt Matura.


Ein Frankfurter Ehepaar hat sich 2019 entschlossen, seine 2018 gegründete Stiftung der Vereinigung von Freunden und Förderern der Universität zur treuhänderischen Verwaltung zu geben. Die Stiftung hat den Sitz in Frankfurt und fördert ausschließlich Wissenschaft, Forschung und Lehre in den Bereichen Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosomatik sowie Projekte in der Versorgung psychisch kranker Menschen an der Goethe-Universität.

Im Juli wurden nun von der Stiftung Mittel im sechsstelligen Bereich für zwei Projekte der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie bewilligt. Der Klinikdirektor Prof. Dr. Andreas Reif und sein Team werden untersuchen, wie bei der Therapie von Stimmungs- und Angststörungen virtuelle Realität eingesetzt werden kann.


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /