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© Fotolia.com | jah_unit | Tschernobyl

Atomare Bedrohung: Kernkraftwerke im Kriegsgebiet

Der Krieg in der Ukraine hat einen nuklearen Unterton. Die ukrainischen Atomkraftwerke könnten dabei zur größten Gefahr werden. Denn die Nutzung von Atomkraft ist absurderweise auf Frieden angewiesen.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat schreckliche Konsequenzen für die Bevölkerung. Die nukleare Bedrohung durch Russland schwingt dabei stets mit. Mit der Übernahme der Reaktorruine Tschernobyl durch russische Truppen Ende vergangener Woche wurde das Thema ebenso präsent wie durch Putins Äußerungen zur Atommacht Russlands. Dabei stellen die ukrainischen Atomkraftwerke wahrscheinlich eine deutlich größere Gefahr dar als ein gezielter Angriff. Denn die Ukraine ist Kernkraftland. Ukrainische Meiler sind alt und nicht für einen Krieg ausgelegt. Kämpfe in Gebieten um die Reaktoren könnten katastrophale Folgen haben.

Ukrainische Atomkraftwerke nicht für Krieg gerüstet

Die Ukraine ist eines der am stärksten von Atomenergie abhängigen Länder der Welt. Über 50 Prozent des Stroms in der Ukraine werden aus nuklearen Anlagen erzeugt. Derzeit hat die Ukraine vier Atomkraftwerke mit insgesamt 15 Reaktoren. Auch das mit sechs Reaktoren größte AKW Europas steht in der Ukraine, in Saporischja. Zum Zeitpunkt des russischen Angriffs waren 13 Reaktoren am Netz, zwei weitere wurden in den darauffolgen Tagen laut der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde aus strategischen Gründen vom Netz genommen.

Die Mehrheit der Meiler hat ihre ursprünglichen Laufzeiten bereits überschritten und wurde nach EU-Standards nicht ausreichend modernisiert. Auch ohne äußere Einflüsse war die Sicherheit der Reaktoren deshalb bereits seit Jahren zweifelhaft. Am AKW-Standort Khmelnitskyj entstehen zudem zwei neue Reaktorblöcke, obwohl unklar ist, ob die in den 1980er Jahren errichteten Fundamente und Hochbauten dafür geeignet sind und dies seit über 10 Jahren nicht überprüft wurde.

Nach dem Atomunglück von Fukushima 2011 wurden AKW in ganz Europa Stresstests unterzogen, auch die Ukraine nahm teil. Die Sicherheit gegenüber terroristischen Anschlägen und Flugzeugabstürzen wurde ebenso getestet. Eine mögliche Gefährdung durch die AKW in der Ukraine wurde zudem 2014 bereits diskutiert, als russische Truppen die Krim besetzten. Daraufhin angestrebte Modernisierungsmaßnahmen sind allerdings bis heute nicht abgeschlossen. Die Betreiber der ukrainischen Atomkraftwerke betonen hingegen aktuell, dass die Reaktoren grundsätzlich gegen Flugzeugabstürze gesichert seien. Ob sie auch starker Kriegsmunition standhalten würde, bleibt unklar.

Das Öko-Institut warnte bereits 2017 vor der nuklear hochgefährlichen Situation in der Ukraine. Denn zu den größten Risiken, die von der sogenannten zivilen Nutzung der Kernenergie ausgehen, gehören politisch und wirtschaftlich instabile Verhältnisse. Atomkraftwerke benötigen eine ununterbrochene institutionelle und materielle Sicherheitsinfrastruktur. Kleinere Störungen von Handlungsabläufen oder Kontrollverlust über die nukleartechnische Infrastruktur können so schnell zu einer massiven Bedrohung werden.

Gefahrenfaktor Stromversorgung

Ein Zwischenfall auf der Krim 2015 demonstrierte diese Gefahr eindrücklich. Gesprengte Strommasten schnitten damals einen Teil der Bevölkerung von der Energieversorgung ab – auch der Kernreaktor Saporoschschje war betroffen. Der Betrieb des Reaktors wurde so stark beeinträchtigt, dass die Betreiberfirma Ukrenergo die Situation als hochgefährlich einstufte.

In der derzeitigen Kriegssituation in der Ukraine ist die Gefahr von Zwischenfällen dieser Art noch einmal deutlich höher. Darauf verwies in den vergangenen Tagen auch James Acton, der Co-Direktor des Nuklearpolitik-Programms der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden. Kernkraftwerke könnten gewollt oder ungewollt Ziel von Angriffen werden, schreibt Acton in einem Kommentar. „Diese Anlagen nutzen Strom aus dem staatlichen Stromnetz, um den Reaktor zu kühlen, falls dieser zur Abschaltung gezwungen wird. Auch wenn Notstromsysteme wie Dieselgeneratoren zur Verfügung stehen, ist das Stromnetz eine wichtige Verteidigungslinie. Die Gefahr eines Stromausfalls in der Ukraine ist sehr groß, wenn russische Streitkräfte die Strominfrastruktur des Landes angreifen.“

Die große Abhängigkeit von Atomstrom stellt ein strukturelles Problem für die derzeitige Stromversorgung dar. Denn die Reaktoren entsprechen dem sowjetischen Kraftwerksdesign und der Großteil des Brennmaterials wird aus Russland importiert. Auch der Atommüll geht dorthin zurück. Die Stromversorgung der Ukraine ist in diesem Sinne hochgradig abhängig von Russland und könnte leicht zur gezielten oder unbeabsichtigten Gefahr werden. Die Europäische Union diskutiert auch deshalb aktuell, die Ukraine an das europäische Verbundnetz anzuschließen.

Sperrzone Tschernobyl eingenommen
tschernobyl_1986
Tschernobyl 1986

Die nukleare Gefahrenlage rückte mit der russischen Übernahme der nuklearen Sperrzone Tschernobyl vergangene Woche verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Russische Truppen besetzten Tschernobyl und nahmen Medienberichten zufolge die Beschäftigten als Geisel. Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky bezeichnet den Kampf um Tschernobyl als Kriegserklärung an ganz Europa. Tschernobyl lag zwar für die russischen Truppen auf direktem Weg zur Hauptstadt Kiew. Doch dass die Einnahme der Atomruine eine weitere Drohgebärde darstellt, wird auch von westlichen Medien angenommen. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA warnte am Wochenende wiederholt, die Sicherheit der Anlagen dürfe nicht gefährdet werden. Generaldirektor Rafael Mariano Grossi wies zudem darauf hin, dass jeder Angriff auf zivile nukleare Anlagen gegen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen verstoße.

Die staatliche Nuklearaufsichtsbehörde der Ukraine meldete nach den Kämpfen erhöhte Gammastrahlenwerte in der Sperrzone, die sich rund 30 Kilometer um Tschernobyl erstreckt. Experteneinschätzungen aus der Ukraine zufolge könnte der Anstieg der Werte mit dem Einsatz von schweren militärischen Geräten bei der Übernahme durch russische Truppen zusammenhängen. Durch die Störung der obersten Bodenschicht habe die Luftverschmutzung mit kontaminierten Partikeln zugenommen, was den Anstieg der Strahlenwerte erklären würde. Denn obwohl es sich um eine starke Erhöhung der Werte handelt, befindet sich die Strahlenkonzentration unterhalb der Grenzwerte der Europäischen Union. Die Internationale Atomaufsichtsbehörde hat bisher keine Beschädigung der Anlagen festgestellt.

Neben den nun vor Ort stationierten russischen Truppen gehen laut russischen Angaben die Beschäftigten der regulären Anlagensicherung weiter ihrer Arbeit nach. Eine akute Gefährdung der Menschen vor Ort und der umliegenden Gebiete sei derzeit nicht anzunehmen. Experten sind sich einig, dass Tschernobyl zwar weiterhin eine Gefahr darstellt, die laufenden AKW in der Ukraine aber deutlich größere Risiken bergen. In diesem Jahr sollte endlich die Demontage des Katastrophenreaktors beginnen. Insgesamt war geplant, die Atomkraftwerksruine bis 2065 zurück zubauen.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion “energiezukunft“ (Julia Broich) 2022 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden! | energiezukunft | Heft 31/2021 | „Dezentral Erneuerbar – ein Update“ |  Jetzt lesen | Download

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