Wie schwer wiegt ein Neubaugebiet?

Factsheet aus "Verbaute Zukunft?" - Wissenschaft & Umwelt interdisziplinär 12/2009 (hg. vom Forum Wissenschaft & Umwelt)

Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise nahm ihren Ausgang – zumindest auf Verbraucherseite – bei der unstillbaren Sehnsucht nach dem Eigenheim im Grünen.

Während sich die Arbeitsplätze in den Ballungsräumen konzentrieren, boomen die Einfamilienhausgebiete abseits der Kernstädte und in Landgemeinden. In Niederösterreich wurden in den letzten Jahren um die 90 Prozent aller neu errichteten Gebäude als Ein- oder Zweifamilienhäuser gebaut, meist auf Baugründen an den Siedlungsrändern. In Deutschland ist die höchste Bautätigkeit auf den Bauparzellen von ländlich geprägten Gemeinden zu beobachten: 98 Prozent der dort entstehenden Gebäude haben die Gestalt von Ein- und Zweifamilienhäusern.

Die Verkehrslawine, die diese Entwicklung augelöst hat, wälzt sich durch Stadt und Land. In Österreich hat sich die Länge der Arbeitswege seit 1971 mehr als verdoppelt: Heute legt jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin im Durchschnitt rund 20 Kilometer täglich zurück. Die Zahl der Pendler und Pendlerinnen ist seit 1985 um fast 50 Prozent auf knapp 2 Millionen Menschen gestiegen. Vier Fünftel des Pendlerverkehrs werden mit dem Pkw zurückgelegt.

Die räumlichen Strukturen der Gegenwart potenzieren unseren Verkehrsaufwand und sorgen dafür, dass unsere CO2-Einsparungsbemühungen im Klimaschutz kaum wirksam werden. Energiesparlampen und Wärmedämmungen sind lobenswert und wichtig - aber ein Haushalt in einem nicht sanierten, jedoch an den öffentlichen Verkehr angebundenen Standardhaus OHNE Auto verbraucht insgesamt weniger Energie als die BewohnerInnen eines modernen Niedrigenergiehauses MIT Automobil.

Jeder einzelne Bewohner und jede Bewohnerin einer Einfamilienhaussiedlung schleppt zudem einen "Wohn"-Materialrucksack von 290 Tonnen Beton, Bitumen, PVC, Stahl und anderen Stoffen mit sich herum - ein Stoffvolumen, das ungefähr dem Gewicht einer Lokomotive mit sieben Waggons entspricht und das irgendwann mit viel Aufwand abgebaut, erzeugt, transportiert werden musste. Im Vergleich dazu ist der mit Ziegeln, Holz, Beton und anderem mehr gefüllte Rucksack eines Wohnungsmieters, der in einem der typischen geschlossenen städtischen Wohnblöcke aus der Gründerzeit logiert, fast um die Hälfte leichter, nämlich rund 160 Tonnen.

Der Rucksack des städtischen Altbau-Wohnungsmenschen beinhaltet 15 Tonnen an Materialien für die infrastrukturelle Erschließung seiner Wohnstätte: Diese stecken in Rohren für Wasser, Gas, Abwässer oder in Stromleitungen, vor allem aber in den Baumaterialien der Erschließungsstraßen. Der Einfamilienhausmensch aber schultert satte 130 Tonnen an Infrastruktur-Stoffen - denn je dünner die Besiedlung, umso höher der Pro-Kopf-Aufwand für Straßen und Leitungen, der auf jeden Einzelnen entfällt.

Für die Zukunft ist, so viel dürfte bei einem Fortdauern der gegenwärtigen Trends feststehen, mit erheblichen Problemen bei der Auslastung von technischen und sozialen Infrastrukturen zu rechnen. Und diese Probleme werden sich in der finanziellen Form von wachsenden Pro-Kopf-Kosten und erhöhten Belastungen der kommunalen Haushalte und der öffentlichen Hand manifestieren. Jeder Prozentpunkt an abnehmender Siedlungsdichte bedeutet mehr Aufwand für netzgebundene Infrastrukturen um mindestens einen Prozentpunkt. Verlierer dieser Entwicklungen sind die Gemeinden, die einen Teil der Erschließungskosten tragen, und die Privathaushalte, die über Beiträge und Gebühren einen Großteil der Infrastrukturen finanzieren. Aber auch die Gesamtheit der Gebühren- und Steuerzahler ist betroffen, denn Infrastrukturkosten und Auswirkungen der Zersiedlung werden den Verursachern nicht voll angerechnet. Die Allgemeinheit - wir alle - tragen die Kosten für eine ausufernde räumliche Entwicklung mit.

In weiten Teilen der Fachwelt herrscht wohl Klarheit über die Folgen unseres Umgangs mit Flächen und Räumen – bei den handelnden und entscheidenden Menschen vor Ort sind diese Erkenntnisse aber noch nicht in ausreichendem Maße angekommen.

Wenn Gemeinden die Kosten für ein neues Baugebiet kalkulieren, spielt die Höhe der einmaligen Ersterschließungskosten eine entscheidende Rolle (die in vielen Fällen zum allergrößten Teil ohnedies an die Anlieger und Hausbauer weitergegeben werden). Die mittel- und langfristigen Folgekosten aus Betrieb, Unterhalt und Instandsetzung, die den kommunalen Haushalt weit stärker belasten, finden dagegen kaum Beachtung. Es erscheint daher dringlich geboten, die Kommunen dazu zu veranlassen, ihre flächenpolitischen Entscheidungen systematisch hinsichtlich all ihrer Folgekosten zu quantifizieren - also die Einnahmen aus neuen Baugebieten allen kurz- und langfristigen Kosten gegenüberzustellen und damit Kostentransparenz zu schaffen. Auf dieser Basis könnte sich das Flächenausweisungsverhalten stärker an einem langfristig orientierten ökonomischen, nachhaltigen und generationengerechten Denken orientieren.

Eine Zusammenstellung nach Beiträgen von Tanja Tötzer/Wolfgang Loibl/Klaus Steinnocher, Clemens Deilmann, Thomas Preuß, Georg Schiller, Gernot Stöglehner/Franz Grossauer

Quelle und weitere Informationen: Forum Wissenschaft und Umwelt


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /