Ausverkauf der Innenstädte

30 Jahre nach dem Lädlisterben kommt das Städtlisterben

Mit dem Auszug der Läden verlieren die Orte nicht nur eine wichtige Nutzung, sondern auch ihre Zentrumsfunktion. Zurück bleibt eine Zeile spärlich belebter Häuser in heruntergekommenem Zustand. In Frankreich ist dank üppiger Landreserven niemand darauf angewiesen, in der Altstadt zu leben. Die triste Stimmung vertreibt auch die letzten Nut­zungen, Pizza isst man neu an der Umfahrungsstrasse, das Kino ist eingegliedert in den Multiplex-Vergnügungsbau der nächsten Kreisstadt, der Credit Agricole ist auf einen Bankomaten reduziert.

Man erkennt leicht, dass in der Schweiz und anderen Ländern eine ähnliche Bewegung in Gang ist. Erschlossen durch das Auto entsteht an der Peripherie ein neues Muster der Pseudo-Ur­banität. Eine Politik ohne Visionen und Gestaltungswillen überlässt es den Kräften des Marktes, das Land zu formen. Letztere tun dies nach ihrer Logik.

Es sind die Shoppingcenter und Fachmarktmeilen, die mit stadtähn­lichen Dimensionen anfangen, die Länder neu zu spinnen. Die immensen Verkehrsmen­gen, die zu ihrem Betrieb nötig sind, scheinen nur außerhalb der Städte handhabbar. Dort aber ist das Auto so weit im Vorteil, dass sich die Autokultur selbst bestätigt.

"Die neuen Mega-Centers sind damit nicht nur im gleichen Segment wie die traditionellen Innenstädte tätig, sie wollen sie ersetzen. Dabei wirken weniger böse Absichten, als vielmehr banale wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten."

Spätestens seit die Dimensionen und Trends klar sind, hätte man erkennen müssen, dass unsere traditionellen Stadte dieser Dynamik nichts entgegensetzen können. Durch das massive Angebot neuer Verkaufsflachen an der Peripherie, wandert die La­dennutzung aus dem Zentrum ab. Zuerst spürbar wird das in den weniger guten Lagen und in den kleineren Städten. Spater kommt Ring um Ring hinzu, bis auch das eigentliche Zentrum bröckelt.

"Nachdem der Dorfbeck und der Metzger gemerkt haben, dass sie in der Cyberstadt besser geschäften können, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Coiffeure, Apotheken, Cabarets, ja sogar die Stadtverwaltung und die Kirche dort ihre Shops einrichten."

Der Konkurrenzkampf zwischen den alten und den neuen Zentren wird zu einer Selektion führen, wobei die neuen Zentren bessere Kar­ten haben. Sie sind unter einem Dach organisiert, sie ha­ben mächtige Partner und sie müssen keine Rücksicht auf kleinteilige Strukturen oder historische Empfindlichkeiten nehmen. Einfach gesagt: Was nicht eine historische Kulisse braucht, kann gerade so gut im Shopping Center unterge­bracht werden.

Ein Ende der Umverteilung ist noch nicht in Sicht. Sind die Kundenströme erst einmal vor Ort, wird es auch schwierig sein, diesen Gebilden ihre Daseinsberechtigung abzuerken­en. Man wird im Gegenteil den Zustand noch stützen mit verbesserten ÖV-Anschlüssen, S-Bahn-Trassen und Zuge­ständnissen an weitere Nutzungen, die sich dort ansiedeln wollen.

Shoppingcenters als Heimat unserer Identität werden aber schon bald die Regel sein. Die Jugend verbringt bereits heute ihre Samstagnachmittage in den Kunstlichtar­kaden zwischen H&M und McDonalds und wird in Zukunft auch noch ihre Abende dort verbringen. Sie werden nach und nach dieses Zentrum als neuen Brennpunkt akzeptieren. Sie leben nicht mehr im gleichen Land wie wir.

Auch die geografischen Folgen sind enorm: An Stel­le der bisherigen urbanen und zentralen Strukturen tritt eine Art Wucherung. Die Wucherung bezieht sich weniger auf die Architektur der Shoppingzentren sondern auf ihre Tentakel, die Straßensysteme und Verkehrsströme, die zu ihrer Erschließung nötig sind und bis in den ländlichen Raum hinausreichen. Ausgestattet mit der wöchentlichen Aktions-Postille der Fachmärkte und Discounter will gerade die ländliche Bevölkerung Teil des Konsum-Hypes sein, oft mehr noch als die Städter, die urbane Vielfalt vor der Türe haben. Während heute in den Städten fast die Hälfte der Haushalte autofrei sind (Bern 47%, Basel 54%, Zürich 45%), fordern ländliche Gegenden weitere Umfahrungen, um schneller zur Autobahn und damit zum zivilisatorischen Anschluss zu kommen.

Längst ist der Landbewohner keiner mehr, sondern eine Art Pseudostädter, der aus Gründen der Wohnqualität das Land, aus allen anderen Gründen aber die Stadt gewählt hat. Er hegt einen Urbanitätsanspruch, den er vor Ort nicht befriedigen kann. Arbeiten, Schule, Einkauf und Freizeit spielen sich nicht mehr auf dem Land ab, sondern in den nahen Zentren. Entsprechend überflutet uns ein Wunsch nach Mobilität, der wie ein Menschenrecht gehandelt wird; -wehe dem, der es anzweifelt. Das Brecheisen des Verkehrs, das die gewachsenen Strukturen mehr und mehr aushebelt, wird zu einem guten Teil also vom Land aus geführt.

Gegensteuern

Ökologisch, sozial und volkswirtschaftlich ist das, was zur Zeit passiert, in keiner Hinsicht sinnvoll . Die Französi­sche Energieagentur (Agence de l´Environnement et de la Matrise de l´Energie) hat in einer Studie gezeigt, dass der wöchentliche Einkauf per Auto im Shoppingcenter (10 km vom Wohnort) 80 mal mehr Energie verbraucht, 200 mal mehr CO2 ausstösst und 20 mal mehr Lärm erzeugt als das Einkaufen vor Ort mit Öffentlichem Verkehr oder dem Fahrrad. Wir fördern also eine Lebensweise, die in allen Leitbildern, Absichtserklärungen und Planungsrichtlinien klar verworfen wird. Trotzdem sind bis 2011 allein in der Schweiz weitere 30 Centers geplant oder bereits im Bau. Diese werden das Einkaufs- und auch Mobilitätsverhalten für die nächsten Jahrzehnte bestimmen.

Der Detailhandel und auch seine mächtigsten Exponenten sind auf die Nähe zum Kunden angewiesen und werden Vorgaben erfüllen, die m an ihnen stellt: Definierte Standorte, Vorgaben an Mobilität und Übernahme von öf­fentlichen Lasten. Basis für eine starke Position ist allerdings eine Einigkeit unter Kantonen und Gemeinden, wie Shopping, Freizeit und Städte in Zukunft aussehen sollen. Dieser Wille ist noch sehr vage, was sich Investoren zu Nutze machen. Gemeinden und Kantone lassen sich erpressen mit der Drohung, das Projekt ein paar Kilometer weiter zu realisieren.

Nur die Philosophie der kurzen Wege kann uns vor der Lawi­ne des Individualverkehrs bewahren. Städte sind der Proto­typ dieser Philosophie und müssen diesem Grundsatz wieder unterordnet werden. Statt ein schalenförmiges Wachstum an der Peripherie muss es ein selektives Wachstum je nach Nutzungstyp geben. Dabei gehören publikumsintensive Nut­zungen ins Zentrum, was nur gelingt, wenn die Öffentliche Hand ein Gestaltungsrecht in diesen Zonen hat oder die Flächen besitzt.

Angebote mit großem Publikumsverkehr gehören ins Zen­trum. Und Angebote mit großem Transportbedarf müssen mit Ideen ergänzt werden, damit sie im Zentrum existieren können. Das bedingt, dass man sich von der Vorstellung löst, jeder Kunde müsse sein eigener Spediteur sein. Ergo würden Fachmärkte, Möbelhallen etc. mittels Hauslieferdiensten funktionieren. Das eigentliche Geschäft wäre eine Art Showroom, auch unterzubringen auf mehreren Etagen oder in mehreren Häusern der Innenstadt. Kleine Waren können mitgenommen werden, große folgen innert Minuten ab Außenlager per Hauslieferung. Die Sammeltouren aller Geschäfte würden pro Quartier gebündelt und so optimiert.

Ein vergleichbares System ist in Thun am Laufen, wo die «City-Logistik» für eine Reduktion des Lieferverkehrs in die Innenstadt sorgt. IKEA wäre also in der City zuhause, hätte ein paar Parkplätze für Sportwagen und würde seine Waren kostenlos nach Hause liefern lassen, meist schon vor der Türe, wenn man selber dort ankommt.

Die autofreie Stadt erfinden

Es braucht eine Entkoppelung von Aktivität und Verkehr. Wenn jede Betätigung mit einer Autofahrt verbunden ist, wird diese Autofahrt Lebensqualität und Raum vernichten, weil sie Stadträume unwirtlich, laut und zu gefährlich macht.

Die Antwort ist also nicht der Hybridantrieb oder die intelligente Strasse, sondern die autofreie Stadt oder das autofreie Ortszentrum, das wieder Dichte und Qualität bietet, wie es letztlich jedes Shoppingcenter vormacht. In Kombi­nation mit dem oben postuliertem Gestaltungswillen wären diese Ortszentren wieder wichtig und attraktiv. Sie würden Zentrumsfunktionen übernehmen, ihre Bewohner dafür mit hoher Lebensraumqualität entschädigen.

Quelle:
Auszug aus Zeitpunkt 94
http://www.zeitpunkt.ch/archiv/2008/94-ausverkauf-der-innenstaedte.html

GastautorIn: Paul Dominik Hasler für oekonews.
Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /