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Grenzen des Verkehrswachstums

Wohin führt der ungebremste Mobilitätsrausch? - von Univ.Prof.Dr. Hermann Knoflacher

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Der heute vorherrschende (Mobilitäts-)Rausch im Verkehrswesen ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, bei dem ein Wirklichkeitsmodell geschaffen wurde, das zunehmend Konflikte sichtbar werden lässt. Die Verkehrstoten, die Lärmbelastungen und die Eingriffe in die Landschaft oder die Finanzen sind allgemein erkannt.
Die indirekten Folgen auf das Sozialsystem, die Raumstrukturen, die wirtschaftlichen Machtverhältnisse, den öffentlichen Verkehr oder die Familienstrukturen sind zwar empirisch nachgewiesen, werden aber von der Öffentlichkeit und der Politik bisher noch ignoriert. Noch hat die Gesellschaft einen ungebrochenen Glauben an ein evolutionär sehr junges Verkehrssystem, das auf der Grundlage von Annahmen errichtet und betrieben wird. Es ist dies die Folge der – nach evolutionärem Massstab – sprunghaften Erhöhung der Verkehrsgeschwindigkeiten, die mühelos für den Einzelnen mit der zunehmenden Motorisierung zugänglich wurden.

Die drei Mythen der Verkehrspolitik

Dass die in den vergangenen 150 Jahren erfolgte technische Entwicklung der Verkehrsmittel und Verkehrsanlagen ohne tieferes Verständnis für die Systemwirkungen erfolgte, wird nicht bedacht. Weder von den Bürgern, noch von den einschlägigen Wissenschaften, die alle Hände voll damit zu tun haben, die immer schneller auftauchenden Probleme zu lösen – wie sie glauben. Da bleibt keine Zeit zu überdenken, ob nicht die Ursachen in den eigenen Handlungen liegen. Denn das wird ja weder gelehrt, noch entspricht die Selbstkritik dem beruflichen Leitbild der in diesen Fächern hauptsächlich Tätigen, wenn sie auf Richtlinien oder Formeln trainiert werden, deren Voraussetzungen und Einschränkungen sie nicht kennen. So entstanden die drei tragenden Dogmen der heute vorherrschenden Verkehrspolitik:

* Mobilitätswachstum
* Zeiteinsparung durch höhere Geschwindigkeiten
* Freiheit der Verkehrsmittelwahl

Es sind dies jedoch Mythen, die es in der Realität des Verkehrssystems nicht gibt!

Es gibt kein Mobilitätswachstum!

"Mobilitätswachstum" basiert auf der Beobachtung, dass die Zahl der Autofahrten mit zunehmenden Motorisierungsgrad stieg, ohne zu fragen, woher diese kommen und welche Ziele sie haben. Auch wurde der Rest des Verkehrssystems (Fussgeher, Radverkehr und öffentlicher Verkehr) nicht wahrgenommen: Erstere meist nur als Störungen und Opfer bei Unfällen; letztere durch Defizite und Zuschüsse. Definiert man physische Mobilität sinnvoll, dann ist jeder Weg einem Zweck zugeordnet. Und da die Zwecke durch den Autobesitz nicht mehr werden, bleibt auch die durchschnittliche Wegzahl pro Person und Zeit konstant. Es gibt kein Mobilitätswachstum!

Die Verkehrsmittelwahl ist steuerbar

Die Verkehrsmittelwahl ist gestaltbar und steuerbar. Der Autoanteil kann vergrössert werden, wie in den letzten 100 Jahren. Er kann aber auch – durch qualifiziertes Verkehrswesen – wiederum nahezu beliebig reduziert werden. Würde man durch schnelle Verkehrssysteme Zeit sparen, müssten Gesellschaften mit schnellen Verkehrsmitteln immer mehr Zeit "übrig" haben und daher gemütlicher sein als langsame. Die qualifizierte Fachwelt weiss, dass höhere Geschwindigkeit nicht zu weniger Zeitaufwand führt, sondern zu einer Verlängerung der Wege. Es kommt zu grundlegenden Strukturveränderungen von Siedlungen und Wirtschaft, erkennbar an Zersiedlung und Konzentration. Die Erhöhung der Verkehrsgeschwindigkeit vergrössert zunächst die Standortwahl und führt in der Folge zur Abhängigkeit vom Auto. Für die Wirtschaft bedeuten schnelle billige Verkehrsmittel die einseitige Bevorzugung der grossen Strukturen und zerstören daher die kleinräumigen, vielfältigen Betriebe. Der Autoverkehr hat aber Vorteile vor allem für schlechte Planer und ebensolche Politiker. Erstere können sich den unfassbar hässlichen Städtebau leisten, der nur mit dem Auto erträglich wird, weil man damit schnell dieser Unwirtlichkeit entgehen kann, zweitere brauchen Probleme nicht mehr am Ort zu lösen, sondern schieben diese in die Ferne, über ihre Verwaltungsgrenzen – letztlich auf EU-Ebene ab. Die Zeitkonstanz im Verkehrswesen ist seit Jahrzehnten bekannt und vor über 20 Jahren wurde daher gefordert, die "Zeitgewinne durch Geschwindigkeit" aus den Nutzen-Kosten-Berechnungen zu streichen, weil es diese nicht gibt.

Faire Wahlfreiheit durch Parkraumorganisation

Die "Freiheit der Verkehrsmittelwahl" ist ein ebenso abstrakter Begriff wie die sogenannte "Kostenwahrheit". Es gibt beide nicht. Wahlfreiheit im Verkehrswesen wird jenseits der evolutionären Realität der Menschen diskutiert. Die Strukturen, die unser Verhalten prägen, waren nicht bekannt und werden daher nicht berücksichtigt. Sie bestimmen aber gemeinsam mit unserer Ausstattung unser Verhalten. Vorhandene Parkplätze unmittelbar bei allen Aktivitäten und oft weit entfernte öV-Haltestellen sind entscheidend für die Verkehrsmittelwahl und erzeugen damit die lauthals beklagten Verkehrsstaus auf den Strassen. Wahlmöglichkeit hängt von den Chancen der Verkehrsmittel ab, vergleichbare Ziele zu erreichen. Die Wahlfreiheit muss also mittels Parkraumorganisation erst hergestellt werden: Erst wenn die Wege zu und von den geparkten Autos mindestens so lange oder länger wie zu den öV-Haltestellen sind, die Parkgebühren und Flächenbenutzungen der Kostenwahrheit entsprechen, entstehen die elementaren Voraussetzungen für eine faire Wahl der Verkehrsmittel.

Wirkungen

Diese Strukturänderung ist an sich minimal, hat aber enorme Wirkungen im System und reduziert den Aufwand an Mobilität (Autokilometer) um bis zu 95%, wenn Garagen in 1000m Abstand und Haltestellen in 500m Abstand angeboten werden. Über 70% der heutigen Fahrbahnen können anderen Nutzungen zugeführt werden. In der Nähe der Wohnungen entsteht eine Vielfalt von Geschäften und auch Arbeitsplätzen. Der Zugriff internationaler Konzerne auf das Geld der Menschen und ihre Arbeitskraft ist nicht mehr so leicht wie heute. Es kommt zur Bildung von lokalen Geldkreisläufen durch Verringerung der Entfernungen; wegen reduzierter Geschwindigkeiten. In diesen lokalen Geldkreisläufen entsteht eine Vielzahl und auch Vielfalt von Arbeitsplätzen.

Weiterführende Literatur:
Knoflacher Hermann, Virus Auto. Überreuter Verlag, Wien, 2009.
Knoflacher Hermann, Stehzeuge. Der Stau ist kein Verkehrsproblem. Böhlau Verlag, Wien, 2001.
Knoflacher Hermann, Verkehrsplanung für den Menschen. Band 1: Grundstrukturen. Verlag Orac, Wien, 1987.
Knoflacher Hermann, Katalysatoren für Nichtmotorisierte. Erfahrung - Erwartung. Verlag Professor Hermann Knoflacher, Wien, 1985.

Hermann Knoflacher

ist Professor am Institut für Verkehrswissenschaften, Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien. Seine Lehrschwerpunkte sind Raum- und Stadtplanung sowie Einflüsse der Mobilität. Bekannt ist Knoflacher für seine Kritik am Automobil und seinen Folgen für die Umwelt des Menschen. Das Auto ist für Knoflacher "wie ein Virus": "Wir ziehen uns mehr oder weniger freiwillig in abgedichtete Häuser mit Lärmschutzfenstern zurück, um den Aussenraum dem Krach, dem Staub und den Abgasen der Autos zu überlassen". Seine Thesen stellen einen wesentlichen Beitrag zum Konzept der "Sanften Mobilität" dar. Seit 2004 ist Knoflacher Präsident des "Club of Vienna".

(Mit einem Danke an die Schweizerische Energiestiftung, in deren Zeitschrift der Artikel abgedruckt wurde)


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /