„Milliarden durchwinken“: Das Versagen des österreichischen Parlaments

Ein offener Brief von Mag. Peter J. Derl zum Thema Bahnfinanzierung

Am 18. April 2012 trat um 9 Uhr der Budgetausschuss des Nationalrates zu seiner 34. Sitzung im Budgetsaal (Lokal VI) des Parlaments zusammen. Tagesordnungspunkt war eine Regierungsvorlage: Ein Bundesgesetz, mit dem die ‘Begründung von Vorbelastungen durch die Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie’ (1) genehmigt wird.


Unter diesem Titel soll der Rahmen für die Bahnfinanzierung, insbesondere für den Ausbau der Bahninfrastruktur, um 33,4 Milliarden Euro erweitert werden. Um einen Vergleich zu bringen: Dieser Betrag entspricht den Gesamtschulden, die von der Republik Österreich zwischen 1945 und 1985 in Summe angehäuft wurden – in 40 Jahren, beginnend mit dem Wiederaufbau bis zur ersten Verstaatlichtenkrise und einschließlich der ‘Schuldenpolitik’ unter Bundeskanzler Kreisky. Wofür frühere Politiker 40 Jahre gebraucht haben, wird nun in knapp vier Stunden beschlossen.

Dass es sich bei den 33,4 Milliarden Euro tatsächlich um Schulden handelt, und nicht um Investitionen (denen in Zukunft adäquate Einkünfte gegenüberstehen), wird im Laufe dieser vier Stunden von Finanzministerin Maria FEKTER bestätigt: ‘Weder die ÖBB noch andere Nutzer der Schieneninfrastruktur (werden) diese Beträge hereinbringen können.’ (2)

Überbordende Staatsschulden haben Europa in die schwierigste wirtschaftliche Lage seit 1945 gebracht. Ganz Europa versucht dieser Krise Herr zu werden, nur im Budgetausschuss des österreichischen Parlaments wird eine politische Geisterfahrt betrieben; man gibt Geld, das man nicht hat, mit beiden Händen aus. Um die Angelegenheit spannender zu machen, gibt man das Geld aus, ohne die zugrundeliegende Materie – nämlich den Rahmenplan für die Schieneninfrastrukturinvestitionen – überhaupt vorgelegt bekommen zu haben. Dies sei nicht notwendig, meint die Finanzministerin, denn ‘dieser Rahmenplan … (stellt) kein Gesetz dar und wurde deshalb nicht an das Parlament übermittelt’. (2) In einem bemerkenswerten Akt der Selbstaufgabe des Parlaments stellt Kai Jan KRAINER, SPÖ-Vertreter im Finanzausschuss fest, dass der Rahmenplan ohnedies ‘über die Webseite des Verkehrsministeriums zugänglich’ (3) sei. Wenn das Parlament über 33,4 Milliarden Euro auf Basis von Unterlagen entscheidet, die irgendwo in den Weiten des Internets theoretisch zu finden sind, braucht man sich über die Wurzeln der Schuldenkrise nicht zu wundern.

Die Bundesregierung wünschte, dass ihre Vorlage rasch durchs Parlament geschleust wird. Am 18. April sollte die Materie durch den Budgetausschuss und am 19. April durch den Nationalrat. Dank satter Mehrheit der Regierungsparteien gelang dies auch. Einmal mehr zeigt sich, dass sich Abgeordnete offenbar mehr der Regierung und der Parteidisziplin verpflichtet fühlen als ihren Wählern. Ein kleiner Aufstand im Budgetausschuss – weil kein Rahmenplan vorgelegt wurde und die fachlich zuständige Ministerin nicht anwesend sei – wird mit Mehrheit der Abgeordneten der Regierungsparteien abgeschmettert.


Zumindest bei zwei Abgeordneten der ÖVP regt sich ein kleines parlamentarisches Gewissen, bei Ferdinand MAIER und Günter STUMMVOLL. Vom ‘Durchwinken von Milliarden’ (3) spricht Günter STUMMVOLL zutreffender Weise. Aber lässt diesen Worten keine Taten folgen. Wenn er festhält, dass ‘im Sinne des Selbst- und Verantwortungsbewusstseins der Parlamentarier … die Genehmigung von Vorbelastungen aus Infrastrukturinvestitionen künftig … anhand des Rahmenplans und in Anwesenheit der Verkehrsministerin zu debattieren’ (2) sei, dann wäre es für einen parlamentarischen Neuling ein ermutigendes Zeichen. Allein: Günter STUMMVOLL ist vor 29 Jahren erstmals in den Nationalrat eingezogen. Und damit Zeuge einer langen, langen Kette ähnlicher Aktionen. Bei 33,4 Milliarden Euro scheint ihm das ‘Durchwinken von Milliarden’ offenbar noch als Kavaliersdelikt; bleibt abzuwarten wie er agieren wird, wenn – wie von Finanzministerin Maria FEKTER angekündigt – ‘die wirklich großen Beträge (für den Bahnausbau) … noch kommen’ (2) werden.



Neben Günter STUMMVOLL sitzt ein weiterer ehemaliger Staatssekretär im Finanzministerium im Budgetausschuss, Christoph MATZNETTER. Von ihm – und drei weiteren SPÖ-Abgeordneten – werden im Budgetausschuss die Ausgaben inhaltlich verteidigt. ‘China (baut) Jahr für Jahr 3.000 km Bahnstrecken’ (2), betont er im Budgetausschuss um zu zeigen, dass ein Land mit Zukunft in die Bahn investieren müsse. Was er nicht hinzu gesagt hat: Bezogen auf die Landesgröße hat China gerade ein Sechstel des österreichischen Schienennetzes, bei einer Fortsetzung des Ausbaus um 3.000 km pro Jahr wäre die Dichte des Schienennetzes in China etwa um das Jahr 2200 (!) auf österreichischem Niveau. Kai Jan KRAINER bemühte die nichtssagende Feststellung, dass ‘70 % des heutigen Schienennetzes aus der Zeit der Monarchie’ (3) stammten – fast 100 % des hochrangigen Straßennetzes folgt alten Römerstraßen, ist es dadurch unbrauchbar? Sonja STESSL-MÜHLBACHER beschließt ihre Ausführungen mit einem Bezug zur Bundeshymne: ‘Das Land der Berge braucht Tunnels’ (2). Demnächst wird wohl unter Hinweis auf die Jubelchöre in der dritten Strophe der Bundeshymne eine Sonderförderung für Chormusik beschlossen…


Kai Jan KRAINER hat in seiner Stellungnahme auch einen Blick auf den Tunnel hinter dem Tunnel geworfen: Langfristig werde wohl eine doppelt so hohe Summe als die beschlossenen 33,4 Milliarden Euro für den Bahnausbau notwendig sein (4). Zur Erinnerung: Begonnen hat der Bahnausbau in den 1980er Jahren mit Kostenschätzungen, die in Höhe der heutigen Beträge liegen – aber in Schilling statt in Euro. Weitere Geldmittel werden immer mit dem Hinweis gefordert (und beschlossen), dass man doch die bisherigen Maßnahmen nicht unvollendet lassen könnte. Obwohl selbst die ÖBB und das Verkehrsministerium selbstverständlich von der ‘Neuen Südbahn’ sprechen, redet Kai Jan KRAINER im Budgetausschuss von ‘Bestandserhaltung’ und ‘Lückenschlussprojekte’. Das Vorteilhafte dieser Strategie der Lückenschlüsse – vorteilhaft aus Sicht der Bauindustrie, nicht der Steuerzahler - besteht darin, dass diese Lücken nie ausgehen werden: Immerhin hat man zwischen Graz und Klagenfurt eine nicht vorhandene Lücke entdeckt, die man mit der sogenannten ‘Koralmbahn’ schließen will, und die (falls je fertig gestellt) sofort die nächste Lücke generiert, nämlich eine ergänzende Route zum dann tatsächlich überlasteten Abschnitt Bruck-Graz.



Dass der Bahnausbau einem Pyramidenspiel gleicht, scheint auch Finanzministerin Maria FEKTER langsam zu dämmern. Sie sieht einen ‘unheimlich hohen Betrag, der künftige Steuerzahler belasten werde’ (2), meint sie im Finanzausschuss; sie spricht von einem für sie ‘mordsschmerzhaften Paket’ (4), das ihr ‘schlaflose Nächte bereitet’ (4). Die um ihren Schlaf gebrachte Finanzministerin stützt ihre dennoch gegebene Zustimmung auf zwei wackelige Grundlagen: Einerseits eine angebliche Notwendigkeit der Infrastrukturinvestitionen für den Güterverkehr (als ob irgend eine Produktion in Österreich derzeit oder auch in Zukunft aus einem Mangel an Schieneninfrastruktur nicht möglich wäre, wogegen künftig zwangsläufig höhere Steuern und/oder Bahnbenützungsentgelte als Folge des Milliarden-Ausbaus die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Österreich unausweichlich vermindern wird) und andererseits ihr persönlich gegebener Zusagen, dass Italien und Deutschland ihre Zulaufstrecken zum Brenner-Basis-Tunnel errichten werden (2). Italien. Persönliche Zusagen aus einem Land, das nahe der Pleite ist und über die alpenquerenden Strecken durch die Schweiz künftig bereits bestmöglich mit den Industriezentren nördlich der Alpen verbunden sein wird.

Auf dieser schwammigen Grundlage hat der Budgetausschluss seine Zustimmung erteilt. Umgerechnet auf die Beratungszeit und die Zahl der Abgeordneten hat der Budgetausschuss eine rekordverdächtige Leistung erbracht: Jede und jeder einzelne Abgeordnete hat pro Sekunde (!) Beratungszeit eine Projektsumme genehmigt, mit der eine österreichische Familie ein schmuckes Einfamilienhaus errichten könnte. Ein so souveräner Umgang mit dem Geld anderer Leute verdient eine namentliche Nennung jener Abgeordneten, die dem Gesetzesentwurf im Budgetausschuss zugestimmt haben: Günter STUMMVOLL, Gabriele TAMANDL, Peter HAUBNER, Dorothea SCHITTENHELM, Franz ESSL, Adelheid Irina FÜRNTRATH-MORETTI, Hannes WENINGER, Kurt GARTLEHNER, Hermann LIPITSCH, Ruth BECHER, Kai Jan KRAINER, Sonja STESSL-MÜHLBACHER, Wilhelm HABERZETTL, Christoph MATZNETTER und Jakob AUER. (5)



Dagegen stimmen die Abgeordneten der Opposition. Und der ÖVP-Abgeordnete Ferdinand MAIER (5). Letzterer wollte am Folgetag sein Abstimmungsverhalten im Plenum des Nationalrates erläutern und wurde (laut Kurier (6)) von der eigenen Partei am Reden gehindert. Ein unwürdiger Abschluss einer unwürdigen Selbstdarstellung des österreichischen Parlaments.



(1) Tagesordnung der 34. Sitzung vom 18.04.2012:

http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/A-BU/A-BU_00001_00284/TO_01867926.pdf

(2) Parlamentskorrespondenz Nr. 305 vom 18.04.2012: http://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2012/PK0305/index.shtml

(3) Parlamentskorrespondenz Nr. 314 vom 19.04.2012: http://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2012/PK0314/

(4) Zitiert laut Presseaussendung Gabriele Moser, Mitglied des Budgetausschusses, vom 18.04.2012:

http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20120418_OTS0192/moser-33-milliarden-infrastrukturpaket-fuehrt-zu-koalitionsstreit-im-parlament

(5) 1755 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXIV. GP:

http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/I/I_01755/fname_250317.pdf

(6) http://kurier.at/nachrichten/4493022-krach-um-oebb-oevp-laesst-mandatar-nicht-reden.php


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