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„Und schon wieder versuchen sie, uns mit Stromausfällen Angst zu machen“

Kommentar von Milan Simoník, Energieprojektleiter und Leiter der Energiesektion der Tschechischen Grünen

Ich habe mich gewundert, als vor einigen Jahren in den tschechischen Medien unter anderem Statements auftauchten, dass die Deutschen verrückt geworden seien, weil sie ihre Atomkraftwerke abstellen und stattdessen auf Wind und Sonne setzen würden. Ich arbeite seit über zwanzig Jahren als Projektleiter im Energiesektor, war an vielen Projekten in ganz Europa beteiligt und weiß, dass Deutschland, wie in vielen anderen Bereichen auch, in der Energiebranche weltweit führend ist.

Aufgrund der Tatsache, dass unsere Erfahrungen mit Tschernobyl unterschiedlich waren, können wir Deutschland kaum richtig verstehen. Während wir ein paar Tage nach dem Unfall den ersten Mai feierten, wurde in Deutschland oder Österreich die Kontaminierung der Sandspielkästen und Lebensmittel gemessen. In Tschernobyl ging es um veraltete Reaktoren in einem starren kommunistischen System. Nach Fukushima gaben wir die Schuld der japanischen Mentalität des Gehorsams. Welche Umstände werden wir beim nächsten Mal heranziehen, wenn wir einen Schuldigen zu suchen haben?

Wir brauchen Energie, aber, berauscht von den gewaltigen Dimensionen unserer ‘Atomaren Kathedralen’, weigern sich viele Energietechniker zuzugeben, dass die Entwicklung einfach fortschreitet. Windstrom ist bereits billiger als die Elektrizität aus neuen zu errichtenden Kernkraftwerken. Photovoltaik-Paneele, noch vor ein paar Jahren ein exklusives Produkt der Raumfahrtindustrie, sind schon fast zu einer gängigen Zusatzausstattung bei Wohnhäusern geworden. In ähnlicher Weise begann eine dynamische Entwicklung bei Möglichkeiten der Energiespeicherung, bei intelligenten Netzen oder bei Elektrofahrzeugen. Von großen Quellen wird der Fokus zunehmend auf die Einsparung von Energie, auf autarke Gebäude und gemeinschaftliche geschaffene und regionale Projekte gelegt, welche das Nutzungspotential lokaler Energieressourcen optimieren. Die unflexible und teure Kernkraft passt in so ein System nicht mehr gut hinein.

Die heutige Welt ist viel zu kompliziert, um sie in einfache Diagramme einordnen zu können. Das gilt sowohl für die Politik insgesamt als auch für Energie im Speziellen.
Einer der Gründe für die Erfolgsstory der Erneuerbaren Energien in Deutschland ist eine offene Diskussion und die Suche nach Lösungen, die für das ganze Volk von Vorteil sind. In der Tschechischen Republik wird die öffentliche Meinung durch gezielte Desinformationen über die Vorteile der Kernenergie, über einen angeblichen Mangel an Potenzial für erneuerbare Energien und über das Schreckgespenst drohender Stromausfälle und Kohlemangels manipuliert. Die Art der Diskussion und Entscheidungen über den Bau neuer Reaktorblöcke und der künftigen Ausrichtung der Tschechischen Energiepolitik ist somit ein Indikator für die Fähigkeit der Tschechischen Republik, sich zu einem modernen europäischen Land zu entwickeln. Es ist aber traurig, dass sogar akademisch gebildete Fachkräfte erneuerbare Energien ablehnen und mit den Milliarden, die wir für eine überzogene Förderung der Photovoltaik ausgaben, argumentieren. Gerade der "Solar-Tunnel" (‘Tunnel’ wurde in Tschechien nach der Wende zu einem Begriff für organisierte Aktivitäten, bei denen der Staat oder Firmen durch ungünstige Verträge oder sogar Gesetze zu Gunsten einiger Weniger sehr viel Geld verliert) ist ein Beispiel für die Unfähigkeit der tschechischen Eliten, rasch auf neue technische und geopolitische Entwicklungen zu reagieren.
Es ist klar, dass die Kernenergie im tschechischen Energiemix vorerst noch ihre Rolle spielt; immerhin werden die Reaktorblöcke in Temelín die nächsten Jahrzehnte noch fast ein Viertel des tschechischen Stromverbrauchs abdecken können. Wenn man jedoch vernünftige Energieeinsparungen und eine angemessene Förderung der Nutzung erneuerbarer Energien entsprechend ausbauen würde, wären zumindest bis 2040 keine neuen Atomreaktoren nötig. Es ist auch nicht sinnvoll, jetzt sich mit der Frage zu beschäftigen, was nach 2040 sein wird. Das kann ruhig noch Aufgabe der nächsten Aktualisierung des staatlichen tschechischen Energiekonzepts in fünf Jahren sein. Die Industrie setzt sich, verständlicherweise, für den Bau von Kernreaktoren ein, denn darin kennt sie sich aus. Je früher sie aber versteht, dass sich die Energiewirtschaft in eine andere Richtung entwickelt, desto besser wird es sein. Auch für sie.

Übersetzung ins Deutsche: Viktor Weinstein, Bernhard Riepl, www.sonneundfreiheit.eu
Übersetzung aus dem Tschechischen Original, veröffentlicht am 4.6.2015 in Ihned.cz (http://archiv.ihned.cz/c1-64111570-a-zase-nas-strasi-nedostatkem-elektriny)


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /